Nach einer mühsamen Reise kam Gerodil Steinhammer in Norisburg an. Wie viele Angehörige seiner Sippe war der Zwerg sehr talentiert, was die Metallbearbeitung betraf. Aber mehr Spaß bereitete ihm die Benutzung der geschmiedeten Erzeugnisse. Und dies besonders im Kampf. Wenn er mit Waffen um sich herumwirbeln konnte, löste dies Glücksgefühle in ihm aus. Es war kein Blutrausch. Er fand auch keinen Gefallen daran, anderen Wesen Schmerzen zuzufügen. Es war die Herausforderung in gegnerischen Deckungen Lücken zu finden, beziehungsweise die ihm entgegen kommenden Schläge abzuwehren. Diese Bewegungen möglichst geschickt auszuführen fühlte sich für Gerodil wie ein Tanz an. Dementsprechend elegant bewegte der Zwerg sich auch beim Kampf. Deswegen entschied er sich in jungen Jahren für eine Kriegerausbildung. Vor einigen Tagen hatte er diese Ausbildung abgeschlossen, seinen Gildenbrief erhalten und war nun auf dem Weg seinen Dienst anzutreten. Er wollte bei dem berühmten Zwergenhändler Golgolgol in der Stadt Norisburg anheuern. Golgolgol unterhielt eine eigene kleine Armee, aus Zwergenkriegern bestehend, die für den Schutz seiner Ware sorgten und auch Aufträge für den Ratsherrn ausführten.
Nach einer mühsamen Reise war die Kehle des Zwerges sehr ausgetrocknet. Als er auf dem Weg zum Handelskontor seines künftigen Herren war, erfreute es ihm sehr, als er eine Gaststätte namens Grüner Markt sah. Wie von einem Magneten angezogen führten ihm seine Füße dort hinein. Er nahm Platz und bestellte sich ein Bier. Die Freude war groß, als ihm die Schankmaid Miranda ein gut gekühltes Norisbräu, das lokale von Zwergen gebraute Bier, servierte. Wie Öl rutschte die kalte Flüssigkeit Gerodils Kehle hinunter. Trotz der Kühle löste das Bier ein wohlig warmes Gefühl im Körper des Zwergens aus. Dies fühlte sich so gut an, daß sich Gerodil gleich ein zweites Norisbräu bestellte. Das dadurch ausgelöste gute Gefühl sorgte dafür, daß der Zwerg vergaß, warum er überhaupt nach Norisburg gereist ist.
Man weiß nicht mehr so genau, ob es der zweite Abend war, an dem sich Gerodil im Grünen Markt aufhielt, oder doch schon der dritte oder vierte, wenn nicht gar der fünfte. Jedenfalls war der Grüne Markt an jenem Abend sehr gut besucht. So gut besucht, daß es keine freien Plätze mehr gab. Ein großgewachsener Thorwaler mit einem Bierkrug in der Hand, dem Gerodil schon an den Abenden zuvor im Grünen Markt gesehen hatte, fragte ihm, ob er sich zu ihm setzen dürfte.
Nach etwas belanglosem Gerede wollte Gerodil wissen, wer ihm Gesellschaft leistete: „Mein Name ist Ansgar Adlerson. Ich komme aus Thorwal. Meine Mutter Janda wollte, daß ich hier eine Lehre als Händler absolviere. Sie möchte nicht, daß ich so werde, wie mein Vater: Adler Jansson. Ihr habt sicher schon von ihm gehört. Er ist ein Held. Er hat neue Kontinente entdeckt, Myranor, Tharun Uthura, und in legendären Kämpfen Seeungeheuer besiegt. Meine Mama will aber nicht, daß ich durch die Welt reise. Sie möchte, daß ich einen „ordentlichen“ Beruf erlerne, seßhaft werde und eine Familie gründe. Aber, mein Freund, ich bin ein Thorwaler! Wir Thorwaler sind nicht dafür geschaffen, irgendwelche Zahlen auf ein Stück Papier zu malen oder Getreidekörner zu zählen. Wir wurden geboren, um die Welt zu erobern und zu erforschen. Aber das Einzige, was ich derzeit erforsche, sind diese Bierkrüge. Und eben bin ich auf dem Boden des Krugs gestossen. Herzallerliebste Miranda, bringt doch mir und meinem neuen Freund zwei volle Krüge. Schenkt noch einmal ein!“
Als er erzählen musste, weswegen er in Norisburg war, spürte Gerodil das schlechte Gewissen an ihm nagen. Es schmerzte ihm, die Prinzipientreue gegenüber seines künftige Dienstherrn vernachlässigt zu haben. Doch während er am Erzählen war, brach Ansgar in lautes Gelächter aus: „Ich kann es nicht glauben. Wir haben den gleichen Herrn. Ihr seid also der Krieger, auf dem mein, nein, unserer Herr schon so lange wartet. Der Händler, bei dem ich lerne, ist Golgolgol. Er ist schon sehr sauer auf euch. Aber Gerodil, mein Freund, habt keine Angst. Ich weiß schon, wie man den alten Knaben um den Finger wickeln kann. Ich bringe euch morgen zu ihm. Und es wird alles gut. Miranda, schenkt noch einmal ein!“
Plötzlich fühlte sich Gerodil wieder besser. Lag es an den vertrauenserweckenden Worten seines neuen Freundes oder an den, keiner weiß mehr wie viele es waren, Krügen Norisbräu? Egal, alles wird gut. Beide gaben sich noch einige Runden des Sorgen vergessen lassenden Biers aus. Als dann Ansgar am Tisch einschlief, ging Gerodil auf sein Zimmer, das er sich im Grünen Markt gemietet hatte.
Am frühen Mittag verließ Gerodil sein Zimmer. Als er in die Schankstube kam, sah er Ansgar immer noch am Tisch schlafend in einer Position, die irgendwie zwischen sitzend und liegend war. Er sah zu Miranda. Sie zuckte mit den Schultern: „Ich weiß, wo er wohnt. Aber er ist schwerer als ein Bierfaß. Und solange er dafür zahlt, darf er gerne die Nacht hier verbringen. Immerhin braucht er kein Zimmer.“ Gerodil orderte ein deftiges Spätstück für beide und rüttelte den Thorwaler wach. Erst schien es so, als würde Ansgar nichts mehr von dem Gerede des Vorabends wissen. Doch bald kam es Gerodil so vor, als würde sich der Thorwaler einen schlechten Scherz mit ihm erlauben.
Nachdem sich beide mit dem Spätstück gestärkt hatten, machten sie sich auf dem Weg zum Handelskontor von Golgolgol. Die Zuversicht des Vorabends hatte inzwischen Gerodil verlassen. Sein schlechtes Gewissen übernahm wieder Kontrolle über ihm. Ansgar hingegen fühlte sich gestärkt. Immerhin hatte er es geschafft, den verloren geglaubten Krieger wieder zu finden. Zum ersten Mal, seitdem er in Norisburg war, würde Golgolgol stolz auf ihm sein.
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